Als ich beschloss, meinen Weg von der Trauer zur Freude zu beschreiten, suchte ich nach einer Anleitung. Ich wollte einen Fahrplan, eine Checkliste übers richtige trauern zum abarbeiten. Und dann wollte ich am liebsten Haken für Haken setzen. Doch so funktionierte das nicht.
Von Freunden bekam ich Bücher geschenkt, ich kaufte mir selbst welche. Alle mit dem Ziel, mir eine Anleitung zur Verfügung zu stellen, wie ich meine Trauer bewältigen könnte. Ich wälzte mich durch unzählige Internetseiten, las Blogbeiträge und Sprüchekalender. Und ich stellte fest, dass das meiste für mich nicht passte. Dass ich nicht in eine Trauergruppe wollte oder eine mondäne Trauerfeier. Ich wollte kein großes Bild neben der Urne sehen und keine leuchtenden Blumengestecke. Ich wollte das Schwarze, was in mir tobte auch nach außen zeigen. Es gab nichts zu feiern und jede bunte Blume wäre mir eine zu viel gewesen. Es hatte nichts damit zu tun, dass ich Andreas nicht die verdiente Ehre erweisen wollte. Für mich war sein Tod eine Amputation, ein Hinausgeschleudertwerden aus meinem Leben, ein Aufschlagen auf dem Boden nach einem ewig langem Fall.
Damals begann ich, meine Gefühle – sofern ich überhaupt noch etwas fühlen konnte – aufzuschreiben. Fand den Vergleich, dass ich durch meine Trauer wie besoffen durch den Tag wankte. War erfüllt vom Pflichtbewusstsein Stärke zu zeigen und zu funktionieren. Ja nicht schwach zu sein, sondern vor allem mir zu beweisen, wie hart ich in all den Jahren geworden war. Ich blutete innerlich und fand keinen anderen Weg, den Schmerz zu ertragen, indem ich mich mit Arbeit und Aktivität betäubte. Ich rannte auf dem Laufband, wanderte mit dem Hund immer längere Strecken, und verbrachte meine Nächte damit, wach zu liegen und zu leiden. Wohlwissend, dass ich am nächsten Tag wieder zu funktionieren habe.
Woher kommst Du – und wohin willst Du?
Die Frage, wie ich den Rest meines Lebens gestalten will, zerlöchert mir heute noch das Gehirn. Denken statt fühlen. Ich habe keinen festen Plan, was nicht schlimm ist, Pläne kann man schmieden. Ich hatte nicht einmal eine Vision oder den Ansatz einer Vorstellung davon, was ich wollte. Mir war klar, was man von mir erwartete. Eine gewisse Trauerzeit, danach die Übernahme der Firma und irgendwie versuchen, Andreas zu ersetzen. Peng. Ausgerechnet den Charismaten, den Visionär, den Wortvirtuosen. Ich halte mich keinesfalls für dumm oder unterqualifiziert. Aber ich hielt mich für eine Dienstleisterin, eine Kreative, und für jemanden, der sich an einem technischen Problem so lange festbeißen kann, bis er eine Lösung findet. Die im Backend herumschrauben kann, recherchiert, ausprobiert und findet und dann tadaa, irgendwann eine Lösung zaubert. Aber ganz sicher keine Strategin, keine Verkäuferin und keine Planerin auf dem Reißbrett.
Ich platzierte mich wie eine Schachfigur auf dem Spielfeld, ohne die leiseste Ahnung zu haben, wie Schach gespielt wird. Manche Spielzüge passten, aber meist hüpfte ich irgendwie herum und verkorkste das Spiel. Immerhin war mir klar, dass ich auf die andere Seite wollte. Aber die Regeln erschließen sich mir nicht oder ich lehne sie ab und ich war irgendwann nur noch erschöpft und frustriert von der Herumhüpferei ohne Ziel, was ich tun sollte. Vom Spielfeldrand bekam ich zwar reichlich Tipps für den nächsten Spielzug. Aber was nützt es, einen einzelnen Zug zu machen, wenn man an diesem Spiel keine Freude empfinden kann?
Trauern – jeder tut es anders
In dem Buch „Für immer anders“ von Mechthild Schroeter-Rupieper fiel mir ein Zitat von Dr. Ruthmarijke Smeding auf. Sie beschreibt vier Erstreaktionen in einer Krise – und dazu ist der Verlust eines Menschen aus meiner Sicht auf alle Fälle zu zählen. Diese Beschreibung sollte mir helfen, meine Reaktionen besser zu verstehen:
Menschen, die vermehrt FÜHLEN, reagieren emotional, sie weinen, schreien oder haben das Gefühl, an der Trauer zu zerbrechen.
- Dieser Weg ist der schwierigste für mich. Zu tief sind die alten Muster verankert, denn er bedeutet, Schwäche zu zeigen und das galt es für mich immer zu verhindern. Statt den inneren Schmerz bewusst zu fühlen, fügte ich mir unbewusst körperliche Schmerzen durch Überforderung zu.
Menschen, die DENKEN, stellen Überlegungen an, sie fragen sich, wie sie agieren können, sie lesen, analysieren und bleiben in der Sachebene.
- Ich, die Kreative, habe die Fühlebene verlassen und nur noch mit dem Kopf agiert. Der Verstand sollte meine Trauer und meine Probleme lösen. Ich erlaubte mir nicht mehr zu fühlen. Daraus entstand ein unendliches Chaos, das bis zum heutigen Tag andauert.
Menschen, die vermehr HANDELN, betreten eine Aktionsebene. Sie putzen, machen Überstunden, Sport etc. und gönnen sich keine Ruhe.
- Auch darin sehe ich mich wieder. Ich bin das Duracell-Häschen, das bis zur Erschöpfung agiert. Das Fühlen muss um jeden Preis verhindert werden. Anstatt Weiblichkeit und Weichheit zuzulassen, drängt sich die Heldin nach vorne, die bewundert werden möchte.
Menschen, die vermehrt VERMEIDEN, schieben alle Gedanken, die an das traurige Ereignis erinnern, beiseite und gehen Gesprächen bewusst aus dem Weg. Sie meiden Orte der Erinnerung.
- Ich vermeide es, in den Friedwald zu gehen und alte Fotos anzuschauen. Vieles von dem, was Andreas ausmachte oder ihm wichtig war, habe ich entsorgt. Einige wenige Erinnerungsstücke sind geblieben. Aber es reißt immer wieder eine tiefe Wunde, in alten Erinnerungen zu graben.
Alles ist richtig, alles ist falsch
Anhand dieser Beschreibung verstehe ich, dass ich alle Reaktionen leben darf und auch leben sollte. Es ist nicht gut, sich nur in einem dieser Trauerprozesse aufzuhalten. Im Idealfall werden sie alle mit dem gleichen Gewicht gelebt – zu unterschiedlichen Zeitpunkten.
Rückwirkend betrachtet kann ich anhand meiner Aufschriebe feststellen, in welchem Prozess ich gerade stecke und wie weit ich bei meiner Reise schon gekommen bin. Anstatt zu verzweifeln und zu glauben, dass ich auf der Stelle trete, kann ich sehen, von wo aus ich gestartet bin, und wie sehr ich mich seit dem Beginn meiner Reise schon verändert habe. Ein gutes Gefühl.